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Allein.

Sonnenuntergang über einem süddeutschen See, vor mir ein Glas bester Rotwein, grade hatte ich mein Menü bestellt. Ruhe und Stille nach einem lebhaften Tag, wie liebe ich diese Momente, in denen die Eindrücke des Tages aufsteigen wie Luftbasen, manche zerplatzen, andere fügen sich zusammen, ein Aha, ein inneres Schmunzeln auch ein Autsch! das tat weh. Nachher würde ich einige Gedanken aufschreiben. Da höre ich das kleine Mädchen vom Nebentisch: Mama, was hat die Frau da Schlimmes gemacht? Die Mutter fragt nach. Na, weil sie alleine essen muss, die Antwort des Kindes.


Alleinsein als Strafe. So haben es viele gelernt und so funktioniert die Sozialisierung auch heute noch. Alleine steht das Schulkind in der Ecke. Einzelhaft in schlimmen Fällen. Isolation.

Wer alleine ist, isst, lebt, arbeitet, tanzt, reist, tut das dem gesellschaftlichen Glauben nach, weil es ihm oder ihr aus welchen Gründen auch immer nicht gelungen ist, eine Begleitung zu finden. Wer alleine unterwegs ist, kennt den Drang, sich erklären, rechtfertigen zu müssen. Allein zu sein heisst auch heute noch: geächtet sein.


Es lohnt sich, der Herkunft dieses Gedankenmodells nachzugehen: Unser Gehirn ist ein soziales Produkt, Hormone und Neurotransmitter belohnen das Zusammensein. So wird zum Beispiel bei Berührungen Oxytocin ausgeschüttet, auch Kuschelhormon genannt. Oxytocin gilt als körpereigenes Stress-Antidot. In der Frühgeschichte der Menschheit war das Überleben besser oder, soweit uns eine Rückschau erlaubt ist, ausschliesslich gemeinsam zu bewältigen. Später machten sich Staats- und Kirchenlenker diese Konditionierung zunutze, denn eine Gruppe aus Individuen ist weitaus schwerer zu führen als ein Volk aus Familien. Vereinen oder anderen gebundenen Untergruppen. Heute profitieren vor allem Unternehmen von der Sehnsucht nach Zugehörigkeit - oder der Angst vor dem Alleinsein, je nach Perspektive.


Die biologische Sehnsucht nach Zugehörigkeitkeit macht den Menschen manipulierbar.

Ein Ausschluss aus der Gemeinschaft kam einem Todesurteil gleich, hier brauchen wir nicht zurückzugehen bis in die Steinzeit, als ein Mammut vermutlich kaum im Alleingang zu erlegen war; Frauen, mehr noch Mütter durften und konnten bis in die jüngste Vergangenheit nur in Ausnahmefällen alleine leben, arbeiten, entscheiden. Alleine zu sein heisst, in Gefahr zu sein. Angreifbar. Ungeschützt. Vogelfrei. Was im Übrigen ursprünglich nichts anders bedeutete als frei wie ein Vogel. Erst im späteren Mittelalter setzt sich die Bezeichnung für Geächtete durch, Menschen in völliger Rechts- und Schutzlosigkeit. Luther als ein bekannter Vogelfreier. Freiheit als Gefahr, erst für andere, dann für den Freidenker.


Jahrmillionen alte Prägungen ändern sich langsam, auch in unserem Gehirn; nicht dazuzugehören, ausgeschlossen zu werden geht auch heute noch mit Angst und Scham einher, und das leider bereits in der Vorstellung.


Eingedenk dessen könnten wir, zusammen mit einer demütigen Verbeugung vor dem Geschick der Evolution freundlicher mit uns umgehen, wenn uns das nächste Mal der schmerzhafte Pfeil der Ausgrenzung trifft.


Nicht immer ist der Bogen, auf dem der Pfeil abgeschossen wird aus dem Holz der eigenen Kindheit gemacht.

Die Angst der Ahn*innen trifft uns, und das mit voller Wucht. Freundlich mit sich sein, dem Menschenkind mit Steinzeit Gehirn Anfang des 3. Jahrtausends, krisengeschüttelt.


Um dann tief auszuatmen und den eigenen Weg weiterzugehen. Denn wer seine Werte, seine Träume und Visionen der Zugehörigkeit verpfändet, wird vielleicht überleben. Aber nicht leben. Das eigene, prächtiges, wunderbares Leben.


Man sagt, wir sind der Durchschnitt der fünf Menschen, mit denen wir die meiste Zeit verbringen; dieser These nähert sich die Neuroforschung an.

Zeit, sich ab und an zu fragen:


Will ich das?


 
Corinna Cremer, Dozentin und Vordenkerin für Krisengesundheit.
"Krisen sind besser als ihr Ruf und Vorbereitung lohnt sich. Weil wir Ausnahmesituationen selten verhindern können, anders als ihre Folgen. Erfahrungen, Erlebnisse und Gedanken aus 3 Jahrzehnten in der Begleitung von Mensch und Unternehmen in Herausforderungen teile ich in der Kolumne gerührt & geschüttelt." www.corinnacremer.com

Die Intelligenz der Angst.

Nennen wir es Intelligenz. Plädoyer für eine Renaissance der Angst als kluge Ratgeberin resilienter, mental starker Menschen

Comentarios


 
gerührt & geschüttelt. freedom. safety. mental health. kolumne.
"Sie haben die besten Absichten, einen hohen moralischen Wertestandard und dann kommt etwas dazwischen. Und das ist in den meisten Fällen ihr eigenes Gehirn."
Hier schreibt Corinna Cremer über Freiheit, Sicherheit und das, was mentale Gesundheit damit zu tun hat.
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